Startseite
clip-02_02.png clip-06_03.png clip-03_02.png clip-09_01.png clip-18_02.png clip-03_03.png clip-03_01.png clip-09_03.png clip-18_01.png clip-02_01.png clip-06_02.png clip-06_01.png clip-09_02.png clip-02_03.png clip-18_03.png

Mai

1

2015

100 Krieger


von David Arico

Eine Geschichte über Mut, Einsicht und die Klarheit sich selbst zu verstehen



Cheng Feng saß auf einer alten, verwitterten Holzbank im kühlen Schatten der blühenden Kirschbäume und musterte nachdenklich seine Hände. Sie waren alt und von tiefen Furchen durchzogen; sie hatten vieles erlebt im Laufe der Jahre. Ein angenehmer Sommerwind streifte das hohe Gras zu seinen Füßen und brachte es zum tanzen. Seine Gedanken schweiften zu fernen Orten die er gesehen hatte, Orte die sehr viele Gefühle und Erinnerungen an sich banden. Langsam hob er den Kopf und ließ seinen Blick die lehmige Straße hinunter wandern. In der Ferne konnte er die majestätischen Gipfel des heiligen Huang Shan Gebirges sehen, die wie eine magische Verbindung zwischen Himmel und Erde empor ragten. Sein Herz war friedlich und seine Empfindungen klar.

Er bedauerte nichts von dem was er getan hatte und auch wenn er zurückdachte an früher, war sein Geist doch immer im Hier und Jetzt. Ein klares und tiefes Gefühl der Ruhe umgab seine Seele, wie ein schützender Mantel der ihn einhüllte und ihm steht's die Vergänglichkeit des Seins vor Augen hielt. Langsam berührte seine Hand das Schwert, das zu seiner rechten auf der Bank ruhte und strich vorsichtig über die schlichte und unverzierte Scheide. Er trug es nun schon seit fast dreißig Jahren bei sich und es war niemals stumpf geworden in dieser Zeit. Wieviele Kämpfe er wohl bestritten haben mochte? Er wusste es nicht, irgendwann hatte er aufgehört zu zählen.

Das Leben als Krieger hatte seine Sinne geschärft und seinen stahlgrauen Augen entging nichts. So auch nicht die drei Männer, die langsam die Straße entlang in seine Richtung kamen. Sie waren allesamt hochgewachsen und von ansehnlicher Statur. Ihrem erhobenen, stolzierenden Gang war zweifelsfrei zu entnehmen, dass sie viel auf sich hielten.

Als sich die Blicke von Cheng Feng und dem ersten der drei Männer, der ein wenig vor den anderen ging, trafen, blieb dieser stehen und musterte ihn unverhohlen. Er schien zu überlegen. Und als auch die anderen beiden stehen geblieben waren, wandelte sich sein Ausdruck. Seine Augenbrauen senkten sich und ein herausfordernder Glanz überzog seine Augen.

"Ich kenne dich!", meinte er mit lauter Stimme.

Seine beiden Begleiter warfen sich fragende Blicke zu, als sie ebenfalls zu überlegen schienen.

"Ja, du bist doch Cheng Feng, nicht wahr?", sprach der Mann weiter und kam dabei einen Schritt näher. "Der berühmte Cheng Feng, der angeblich einhundert Krieger im Zweikampf bezwungen haben soll und den letzten vor noch gar nicht allzu langer Zeit." Seine Augen verengten sich, als er den alten Mann auf der Bank von oben bis unten musterte. Dann hob er herausfordernd das Kinn und meinte mit voller Stimme: "Ha, ich wusste doch, dass dies bloß eine der vielen Geschichten ist, die sich die Leute erzählen!" Selbstsicher zog er die Schultern zurück und meinte mit schwellender Brust, "Du bist über einen Kopf kleiner als ich und die Jugend scheinst du auch schon lange hinter dir gelassen zu haben. Sag mir", fuhr er fort, "Wie kommt es, dass so eine Mähr ins Leben gerufen wird?"

Der alte Mann saß ruhig und mit geradem Rücken auf seiner Bank und musterte sein großes Gegenüber aufmerksam.

"Die Geschichten sind war, ich bin Cheng Feng." antwortete er mit ruhiger Stimme. Der Blick seiner Augen streifte den Horizont und schien in die Unendlichkeit zu reichen. "Sind es wirklich schon so viele die ich besiegt habe?“, meinte er nachdenklich. "Ich weiß es nicht." Mit diesen Worten sah er dem großen Mann direkt ins Gesicht. "Aber wenn es so erzählt wird, dann wird es wohl seine Richtigkeit haben."

*

"Welches Ziel, greift dein Gegner im Kampf immer zuerst an?", hatte ihn Meister Yue Fei gefragt, als sich die beiden mit gezogenen Übungsschwertern im Innenhof des Tempels gegenüber standen. Ein kalter, schneidender Wind zerrte an ihren Kleidern und der Frost des nahenden Winters überzog die umliegenden Felder mit seinem schimmernden Kleid. Cheng Fengs Hände waren kalt und nur mit Mühe vermochte er das Holzschwert zu halten.

"Ich weiß es nicht, Meister.", meinte er fröstelnd. Er war jung gewesen damals und sein Herz unruhig und sprunghaft.

Ein einsamer Rabe schrie sein heiseres Lied von einem der nahen Bäume.

"Du musst es wissen, es kann über Leben oder Tod entscheiden!", meinte der alte Mann ihm gegenüber, welcher ihn regungslos musterte und dem die Kälte nichts anzuhaben schien. Sein langes, weißes Haar wurde vom kalten Wind zerzaust, als er abwartend vor seinem Schüler stand.

Cheng Feng schien zu überlegen, es gab so viele Antworten die ihm plausibel erschienen. Er fror und sog zitternd die kalte Luft ein.

"Mein Haupt, Meister! Das ist wohl das erste Ziel, das mein Gegner angreifen wird.", meinte er schließlich und umklammerte den kalten Griff seines Holzschwertes fester.

Wie ein Schemen schnellte sein Gegenüber plötzlich nach vorne und schlug Cheng Feng mit einem festen Hieb die Beine weg, sodass dieser stöhnend auf dem harten Kopfsteinpflaster aufschlug und sich schmerzend die Knöchel hielt.

"Wie du siehst, war das die falsche Antwort.", meinte sein Meister und wandte sich zum gehen.

Kauernd lag Cheng Feng auf dem Boden und blickte ihm nach, als dieser in der wohligen Wärme des Tempelinneren verschwand.

Und wieder klang das Lied des Raben.

*

"Mein Name ist Li Luan.", meinte der große Mann "und auch ich bin ein gefürchteter Krieger!" Mit diesen Worten schlug er sich auf die Brust, dass es dumpf hallte.

"Das können wir nur bezeugen.", meinte einer seiner beiden Freunde mit starker Stimme. "Niemand hat ihn bisher besiegt in einem Zweikampf."

"Da hörst du es alter Mann!", sagte Li Luan selbstsicher. "Ich trainiere schon lange und das Schwert führe ich mit großer Präzision." Mit demonstrativer Geste zog er es sirrend aus der Scheide und ließ es versuchsweise durch die Luft wirbeln.

"Du kannst kein großer Krieger sein.", meinte Cheng Feng leise und brachte Li Luan verwundert dazu in seinen Schwertstreichen inne zu halten.

"Wie meinst du das alter Mann?" Erzürnt ließ er die Klinge nach vorne sausen und deutete damit auf Cheng Feng. "Hüte deine Zunge, denn ich fürchte mich vor niemandem und schon gar nicht vor dir!"

Langsam hob Cheng Feng den gesenkten Kopf und blickte ihm tief in die Augen.

"Ein Krieger zieht sein Schwert nicht um zu sprechen, denn ein Schwert spricht nicht!" Sein Blick war ruhig, wie das Wasser eines tiefen Sees und durchdringend wie ein Speer den keine Rüstung zu stoppen vermochte. Verunsichert lies Li Luan das Schwert sinken. Mit einem Mal war jeglicher Schwung aus ihm gewichen und seine Beine wogen schwer. Der Blick des Mannes hatte ihn wie ein Schlag getroffen. Langsam stand Cheng Feng auf. Seine Bewegung war sanft und geschmeidig, wie man es nie von einem Mann diesen Alters vermutet hätte. "Wenn du mit deinem Schwert sprechen möchtest, sei dir bewusst, dass es einen eigenen Willen hat und nicht zum sprechen gedacht ist. Es entwickelt seine eigene Dynamik, wenn du ihm die Sprache aufzwingen willst, für die es nicht geschaffen wurde."

Li Luan war einen Schritt zurück gewichen.

"Was faselst du da für wirres Zeug? Die Augen von Cheng Feng waren gelassen und klar als er weiter sprach.

"Ein Schwert versteht nur die Sprache des Blutes, dafür wurde es geschaffen und für nichts anderes. Wenn du also nicht bereit bist mich zu töten, solltest du es stecken lassen."

*

Die Jahre vergingen und Yue Fei stellte seinem Schüler die Frage wieder und immer wieder. Und jedes Mal aufs Neue war seine Antwort falsch. Egal wie sehr Cheng Feng darüber nachsann, stellte seinen Meister nichts zufrieden, was er erwiderte.

"Er wird meine Waffenhand attackieren!", meinte er einmal voll Stolz. "Trifft er meine Waffenhand, ist mir das Kämpfen unmöglich."

"Aber auch wenn er dein Bein verwundet hat er schon nahezu gewonnen!", meinte sein Meister. "Denn bist du nicht mehr agil und wendig, hat er ein leichtes Spiel mit dir und der Sieg ist ihm so gut wie gewiss!"

Nach Jahren des Trainings hatte Cheng Feng alle Ziele genannt, die ihm irgendwie eingefallen waren, aber Yue Fei belehrte ihn immer eines Besseren.

"Ich gebe auf!", hatte er irgendwann einmal gemeint. Es war ein schöner Frühlingstag gewesen und nach Stunden des Trainings schmerzten seine Glieder und sein Geist war müde. Die Sonne senkte sich langsam über die weiten Felder außerhalb des Tempels und breitete ihren rötlichen Glanz über die Landschaft. Es roch nach frischem Gras und keine Wolke bedeckte das endlose Blau des weiten Himmels.

"Du kannst nicht aufgeben, denn ohne einer Antwort auf diese Frage, bist du außer Stande einen Kampf zu gewinnen.", hatte sein Meister daraufhin gesagt und das erschütterte Cheng Feng. Denn hatte er bis jetzt gedacht ein passabler Schwertkämpfer zu sein, verließ ihn nun jeglicher Mut.

Und so trainierte er noch härter. Er studierte unterschiedliche Waffen, von der Hellebarde, über den Speer und den Schmetterlingsmessern bis hin zum Sai. Cheng Feng erhoffte sich so ein grundlegenderes Verständnis über den Kampf zu erlangen. Er trainierte ohne Waffen, mit beidhändigen Waffen und zu guter letzt sogar mit dem Reiterschild. Er ließ nichts unversucht, es gab keinen Stil den er nicht zu ergründen versuchte, keine Waffe und Technik, die er nicht in seine täglichen Übungen einfließen lies. Und dann eines Tages verstand er.

*

Ein leichter Schweißfilm hatte sich auf der Stirn des Kriegers gebildet und seine Brust hatte einiges von ihrer Überheblichkeit verloren.

"I...Ich habe schon viele getötet.", stammelte der große Mann und wich einen weiteren Schritt zurück. Eine Tiefe und unergründliche Angst hatte von ihm Besitz ergriffen.

"Du solltest dich entscheiden, was du willst.", meinte Cheng Feng. Er stand nun dicht vor Li Luan und blickte ihm tief in die Augen. Sein Schwert lag nach wie vor unberührt auf der Bank. "Ein Schwert folgt nur demjenigen wahrhaft, welcher es nicht zu verwenden bedarf.", sagte der alte Mann.

Li Luan blickte sich Hilfe suchend nach seinen beiden Begleitern um, aber diese waren einige Meter hinter ihn getreten und wirkten als würden sie jeden Augenblick das Weite suchen wollen.

"W...Was redest du da, ich verstehe kein Wort?", antwortete Li Luan nun fast schon hilflos.

"Ich habe eine Sache in meinem Leben gelernt die dieses wahrlich bereicherte und mir zeigte, wie ich zu handeln hatte.", sagte Cheng Feng. "Nur derjenige, der mit seinen Gefühlen und Gedanken stets bei sich ist und niemanden anderem mit Aggression begegnet, ist ein wahrer Meister! Nur derjenige der versteht, dass eine ruhige und fromme Mitte das Bindeglied zu wahrer Stärke ist, kann einen Kampf gewinnen, da er nichts von sich preisgibt. Er gibt dem anderen keine Schwachstelle." Er hatte sich umgedreht und war zu seiner Bank zurückgegangen. Als er wieder darauf Platz genommen hatte, fuhr er fort. "Ich verschwende keine Energie, damit zu prahlen oder anderen Angst einflößen zu wollen. Aber die Angst der Anderen trifft auf meinen Gleichmut." Cheng Feng sah Li Luan mit festem Blick in die Augen. "Du verschwendest zu viel Kraft von dir an andere und bist deswegen nicht im Stande deine Mitte aufrecht zu erhalten. Deswegen wirst du niemals eine Chance haben gegen mich!" Die letzten Worte schienen wie eingemeißelt in den Stein der Unendlichkeit.

Der große Krieger; seine Schultern hingen schlaff nach unten und ein fahler, leerer Ausdruck höhlte sein Gesicht, stand da und zitterte wie Espenlaub.

Und dann drehte er sich wortlos um und ging davon, dicht gefolgt von seinen Begleitern.

*

"Es ist mein Bauch, welchen der Gegner immer zuerst attackieren wird; meine Angst!", hatte Cheng Feng schließlich gemeint. Ein hinterlistiges Funkeln hatte die Augen von Meister Yue Fei umspielt, als er die Antwort hörte. "Erst wenn ich meine Angst verstehe und meine Mitte stärke, kann ich dem ersten Angriff meines Gegners beikommen."

"Und wie gedenkst du das zu tun?", hatte Yue Fei ihn daraufhin gefragt.

"Indem ich aufhöre meine Kraft negativ an andere zu verschwenden und steht's ein gutes Gefühl bewahre."

"Und dann wird dein Schwert ewig scharf bleiben, denn du wirst es niemals ziehen müssen!", hatte sein Meister gemeint

Und so war es!