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Jun

11

2015

8 Leben


von David Arico

Eine Geschichte über Karma und wie wir alle miteinander verbunden sind



Missmutig wanderte er die Straße entlang. Es war ein schöner und sonniger Tag, aber das schien er gar nicht zu bemerken. Hätte er diesen dummen Auftrag doch nur nie angenommen. Jetzt hatte er den Salat und musste diese Lieferung bis spätestens nächsten Montag auf die Beine stellen, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, wie. Was hatte er sich bloß dabei gedacht, ging es ihm durch den Kopf. Wie dumm hatte er nur sein können, diesem Geschäft zuzustimmen. Ja okay, der Preis war mehr als gut, aber das war es auch schon. Die Stirn in tiefe Falten gelegt, überquerte er die Straße und setzte seinen Weg auf der gegenüberliegenden Seite fort. Diese Gegend hier hatte ihn schon immer fasziniert. Einfamilienhaus neben Einfamilienhaus, jedes mit beinahe identischem Garten und umgeben von den gleichen, perfekt gestutzten Hecken. Wie konnte man hier nur leben, alles wirkte so aufgesetzt harmonisch, so schön und ausgeglichen - fast unnatürlich - wie in Zuckerguss getauchte Lügen. Er hasste diese Gegend, sie roch förmlich nach Verlogenheit. Alles hier war einfach zu schön, um wahr zu sein hier. Er mochte die Leute nicht, die hier wohnten. Reiche Schnösel, die glaubten, ein teures Auto sei nicht genug, man brauche davon schon mindestens zwei. Und all diese kitschigen Markisen in ihren lieblichen Pastelltönen und die mit Stuck verzierten Hauswände mit ihren kleinen Geranientöpfen davor; wie abscheulich. Er hatte all das hier noch nie leiden können, aber gerade heute merkte er, wie sehr er diese Gegend und ihre Bewohner hasste.

Wütend hob er einen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn, ohne zu schauen, über eine der Hecken. Das Klirren von Glas ließ ihn kurz zusammen zucken. Er hielt inne, blickte sich um und zuckte beiläufig mit den Schultern.
"Ach was solls, das geschieht ihnen ganz recht. Ich werd jetzt erst mal einen trinken gehen", dachte er bei sich und setzte seinen Weg fort. Irgendwie freute es ihn sogar das Fenster getroffen zu haben.

*

Als sie über die schmale Brücke lief, die sich über den Parkteich erstreckte, glitzerte das Wasser wie tausende kleine Sterne unter ihr. Die Sonne stand hoch am Himmel und warf ihre wärmenden Strahlen auf die Stadt. Das leise aufgeregte Zwitschern der Vögel, die sich in den umliegenden Bäumen miteinander unterhielten, wurde vom Wind herangetragen und ein angenehmes Gefühl durchströmte ihren Körper.

„Was für ein schöner Tag.“, dachte sie und beschleunigte ein wenig. Ein kurzer Blick auf den Pulsmesser an ihrem Arm verriet ihr, dass sie ihren vorgesehenen Laufrhythmus gut hielt. Bald hatte sie den Park hinter sich gelassen und bog in die Straße zu ihrer linken ein. Hier hielten sich zu dieser Uhrzeit nicht viele Menschen auf und so konnte sie ihr Tempo noch ein wenig steigern. Nicht mehr lange, und die Hälfte der Wegstrecke war erreicht. Schwitzend, das Ziel aber schon direkt vor Augen, würde sie heute ihren persönlichen Rekord aufstellen.

Da bemerkte sie im Augenwinkel den Bus der Linie 7b in die Haltestelle einfahren. Gerade als sie ihren Blick wieder abwenden wollte, sah sie einen Mann, vollfepackt mit Einkaufstaschen und sichtlich angespannt einen Kinderwagen vor sich her schiebend. Kurz streiften sich ihre Blicke und sie konnte ihm seine Verzweiflung ansehen, diesen Bus vielleicht nicht mehr zu erreichen.

Einen Augenblick überlegte sie, lief dann aber zu der noch geöffneten Bustüre und stellte sich in den Eingangsbereich.

„Warten Sie, da kommt noch wer!“, rief sie dem Busfahrer mit atemloser Stimme zu. Ihren Rekord konnte sie morgen auch noch schlagen, dachte sie und winkte dem Mann freundlich zu. Sein Blick erhellte sich als er die Frau an der Bustür stehen sah und er beeilte sich.

„Vielen Dank!“, sagte er erleichtert als er mit ihrer Hilfe den Kinderwagen und seine Einkaufstaschen in den Bus hob. „Sonst ist das wohl eher umgekehrt“, meinte er lachend. „Vielen herzlichen Dank nochmal.“

„Gern geschehen“, erwiderte die Läuferin lächelnd und sah ihm noch kurz nach, als der Bus seinen Weg fortsetzte, bevor sie weiterlief.

„Der arme Kerl hatte Glück“, dachte sie erleichtert, denn die Intervalle der Buslinie 7b waren recht groß und man musste oft sehr lange warten, entsann sie sich. Der Bus fuhr hinaus aus der Stadt in die Peripherie und das nur zwei oder drei Mal am Tag. Gut das er ihn noch erwischt hatte, dachte sie.

*

"Oh mein Gott!", schoss es ihm durch den Kopf. War es das, für was er es hielt? Er hasste sie jetzt schon, obwohl er noch nicht mal wusste, was genau geschehen war. Als er die Treppe nach unten kam und das eingeschlagene Fenster sah, verwünschte er sie.

"Diese gottverdammten Nachbarskinder!", fluchte er laut und sah sich mit wütend in seinem Wohnzimmer um. Überall waren Scherben. Auf seiner neuen Ledercouch, auf dem teuren Teppich, ja sogar in den Seidenvorhängen steckten einige der Splitter.
"Wenn ich sie erwische, drehe ich Ihnen den Hals um!" Mit hochrotem Gesicht stieg er vorsichtig über die am Boden liegenden Glasscherben und blickte durch das Loch in seinem Fenster nach draußen, aber da war niemand. "Na wartet, das zahle ich euch heim, ihr kleinen Bastarde!"

Fluchend und schimpfend, beseitigte er die Unordnung und setzte sich dann mit finsterer Miene an den Tisch. "Kinder!", ging es ihm durch den Kopf, "so etwas Unnötiges, machen nur Ärger!" Er leerte sein Whiskyglas und goss sich zur Beruhigung gleich noch einen Whisky ein. "Naja, eigentlich sind es ja die Eltern, die ihnen keine Manieren beibringen", dachte er sich und kippte auch das zweite Glas hinunter.
"Die Eltern haben eine Lektion verdient" und ein hämisches Grinsen legte sich um seinen Mund, als ihm eine Idee kam, wie er sich am besten rächen konnte.

Später als es dunkel geworden war, verließ er leise sein Haus und schich in den Garten seiner Nachbarn. Es war eine sternenlose Nacht und der Mond versteckte sich hinter pelzig wirkenden Wolken, ideal für sein Vorhaben.
Das Unkrautbekämpfungsmittel das er noch schnell besorgt hatte, würde diesen verdammten Rosen seiner Nachbarn den Garaus machen. Ein finsteres Lächeln huschte über sein Gesicht, als er den Inhalt der Flasche über die Blumen sprühte.

"Rosen", dachte er bei sich, "fast genauso unnötig wie Kinder!" Morgen würden sie aussehen wie verwelktes Laub. Er kicherte bei der Vorstellung und eilte schnell zurück in sein Haus.

*

Sie stand gerade in der Küche und wusch das Geschirr ab, als sie die Eingangstür zufallen hörte.

„Hallo mein Schatz, ich bin zurück!“

Sofort eilte sie in den Vorraum. „Juhu, du hast es noch rechtzeitig geschafft!“, rief sie, als sie ihn sah und umarmte ihn überschwänglich.

Er stellte die Einkaufstaschen auf die kleine Anrichte zu seiner Linken.

„Na, wie geht's dir meine Kleine?“, und mit einem liebevollen Blick auf das Baby hob sie es vorsichtig aus dem Kinderwagen und schaukelte es in ihren Armen.

„Hab den Bus gerade noch erwischt!“, sagte er schmunzelnd. „Wie lange hast du denn noch Zeit?“, wollte er fröhlich wissen und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„In etwa einer Stunde muss ich los!“, antwortete sie und lächelte ihn glücklich an. „Bist du hungrig?“, fragte sie und ging zusammen mit ihm ins Schlafzimmer wo sie ihr Kind in das kleines Gitterbett legten. „Ist sie nicht bezaubernd unsere Kleine?, meinte sie und wollte sich gerade umdrehen um in die Küche zu gehen, als ihr Mann sie sanft am Handgelenk festhielt. Verwundert blickte sie ihn an. Als sie in die Augen ihres Partners sah, spürte sie sofort seine Aufregung und hob erwartungsvoll die Augenbrauen.

„Ich bin wirklich froh, dich noch zu Hause angetroffen zu haben, bevor du heute Abend wegfliegst“, sagte er und kniete sich dabei vor sie hin, immer noch ihre Hand in den Seinen haltend. „Ich möchte dich nämlich etwas ganz Wichtiges fragen!“

Als sie ihren Freund so vor ihr knieend sah, schlug ihr Herz bis zum Hals und ihr Gesicht begann zu strahlen.

„Magst du meine Frau werden?“, fragte er sie und öffnete eine kleine Schatulle mit einem Goldring darin.

„Oh ja, das will ich!“ Sie warf sich ihrem Freund um den Hals und hätte ihn dabei fast umgestossen. Lachend umarmten sie sich, sie waren überglücklich.

Später als sie in ihrem Flieger saß und die Stadt unter ihr langsam immer kleiner wurde, dachte sie an das bevorstehende Meeting, das zu leiten sie ihre Firma beauftragt hatte. Sie würde sich mit der Firmenleitung eines großen Konzernes treffen, um anstehende Fusionierungspläne zu sprechen. Eine große Aufgabe, aber sie war gelassen und gut gelaunt. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen als sie an ihren zukünftigen Mann dachte und sie fühlte sich rundum wohl. Die besten Voraussetzungen für ein geschäftliches Treffen.

*

Als sie am nächsten Morgen ihren Garten betrat, um die Zeitung zu holen, hielt sie erschrocken die Luft an. Ihr Blick wanderte über die gestern noch so schöne Rosenpracht und blieb an verwelkten Blumen hängen, die traurig ihre Köpfe zu Boden gesenkt hatten. Langsam ging sie in die Hocke und berührte fassungslos die toten Blumen.

"Wie konnte das nur geschehen?", fragte sie sich. "Gestern waren sie doch noch so schön und prächtig gewesen", ging es ihr durch den Kopf. Verwirrt ging sie langsam wieder zurück ins Haus. Die Kinder waren in der Schule und ihr Mann in der Arbeit. Aber gestern war er später als sonst nach Hause gekommen. "Die Arbeit!", hatte er gemeint.

"Ha, von wegen die Arbeit!", dachte sie. Und mit einem Mal wurde ihr alles klar. Ihr Mann hatte die Rosen noch nie leiden können. Sie seien zu altmodisch für dieses moderne Haus und er hatte auch gemeint, sie solle den Garten nicht mit so kitschigem Kram verunstalten. Eine angesehene Familie bräuchte ein repräsentatives Auftreten nach Außen hin und Rosen vermittelten bloß liebliche Schwäche. Wut stieg in ihr auf. "Das wird er mir bezahlen, dieser Halunke!", dachte sie zornig. In den letzten paar Monaten sah ihre Ehe ohnehin nicht gerade rosig aus, ständig bekamen sie sich wegen irgendwelcher Kleinigkeiten in die Haare. Aber so etwas hätte sie ihm aber nicht zugetraut und das schmerzte sie noch mehr als die Tatsache, dass ihre schönen Blumen kaputt waren.

Als ihr Mann an diesem Abend von der Arbeit nach Hause kam, würdigte sie ihn keines Blickes.

"Was gibt es denn zu essen?", wollte er wissen, nachdem er es sich auf dem Sofa bequem gemacht und in einer Autozeitschrift zu blättern begonnen hatte.

"Dieser verlogene Mistkerl!", dachte sie bei sich und ohne ein Wort zu sagen, verließ sie den Raum und ging nach nebenan ins Schlafzimmer.

"Hey, was ist denn heute schon wieder los mit dir?", hörte sie die genervte Stimme ihres Mannes aus dem Nebenraum und als er zu ihr ins Schlafzimmer nachkam und sie mit missmutigem Gesicht musterte, musste sie sich stark zurückhalten die Kontrolle zu bewahren; in ihr kochte es.

"Was los ist, möchtest du wissen? Ich glaube, das weißt du ganz genau, lass mich bloß in Ruhe!" Mit diesen Worten drehte sie sich um und starte aus dem Fenster. Kurz herrschte Stille, aber sie konnte den bohrenden Blick ihres Mannes und seine Missachtung förmlich spüren.

"Weißt du was, du kannst mich gern haben!", rief er und verließ wütend das Zimmer. "Es ist doch immer das Gleiche mit euch Frauen, da kann sich keiner auskennen! Ich geh jetzt einen trinken, mach doch was du willst!"

Sie hörte nur wie die Eingangstür dumpf ins Schloß fiel, dann herrschte Stille.

*

Kurz nachdem die Frau ihr Büro betreten hatte, begann sie alles für die bevorstehende Besprechung vorzubereiten. Sie startete ihren Laptop und den Deckenbeamer, legte Schreibzeug und die benötigten Firmenordner bereit und ließ ihrer Sekretärin ausrichten, in der nächsten Stunde keine Telefongespräche zu ihr durchzustellen. Pünktlich auf die Minute genau erschien ihre potentielle zukünftige Geschäftspartnerin und diese startete nach einer kurzen, aber herzlichen Begrüßung ihren Vortrag. Es ging um die Fusionierung der Firmen, in denen die Beiden in leitenden Positionen arbeiteten. Die Frau ihr gegenüber gefiel ihr. Sie hatte Mut, wusste genau, was sie wollte und strahlte Gelassenheit und Ruhe aus.

„Eine ideale Geschäftspartnerin“, dachte sie und beobachtete die andere Frau ganz genau als diese über den Beamer ihre Präsentation fortsetzte. Sie wirkte dabei nicht im Geringsten aufgeregt oder verunsichert, sie schien alles gut im Griff zu haben.

„Ich verstehe warum ihre Firma Sie zu uns geschickt hat!“, unterbrach sie lächelnd den Vortrag. „Sie wissen ganz genau worauf es ankommt und erkennen sofort den Kern der Dinge.

„Danke, ich gebe mein Bestes!“, erwiderte die andere Frau und fuhr fort.

Nach einer guten Stunde schüttelten sich die beiden Frauen die Hände, sie waren sich einig geworden, dass ihre Firmen in Zukunft zusammen arbeiten würden.

„Was halten Sie davon wenn wir heute Abend noch etwas trinken gehen? Ihr Rückflug ist wahrscheinlich erst morgen und es würde mich freuen, Sie ein wenig besser kennen zu lernen“, meinte sie. Bei diesen Worten erhellte sich der Blick der anderen Frau und sie wirkte sichtlich aufgeregt.

„Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte keinesfalls unhöflich wirken, aber ich werde doch noch heute wieder zurück nach Hause fliegen.“ Sie machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr. „Mein Freund hat mir nämlich gestern einen Heiratsantrag gemacht und wir hatten noch gar keine Gelegenheit, richtig zu feiern." Bei diesen Worten strahlte sie förmlich.

„Wow, ich gratuliere, das freut mich sehr“, erwiderte sie. „Keine Frage, dann sollten Sie auf jeden Fall heute noch fliegen“, fuhr sie lächelnd fort. Kurz schien sie innezuhalten und zu überlegen, weil ihr eine Idee gekommen war. „Wissen Sie was!“, sagte sie ganz spontan, „Ich werde Sie begleiten. Ich habe eine gute Freundin die ich schon ewig nicht mehr gesehen habe. Sie wohnt in Ihrer Heimatstadt.“ Ein wenig überrascht über ihre eigene spontane Entscheidung, nickte sie bestätigend und lächelte. „So können wir unser Gespräch im Flieger fortsetzen und ich komme ein wenig aus meinem gewohnten Alltag heraus. Sie freute sich über ihren Entschluss.

Ein paar Stunden später saß sie mit ihrer neuen Geschäftspartnerin im Flugzeug und war schon sehr gespannt darauf ihre langjährige Freundin endlich wieder zu sehen. Aufgrund der räumlichen Distanz zwischen den beiden, war es Ihnen leider nicht möglich sich oft zu treffen. „Irgendwie schade“, dachte sie, freute sich aber gleichzeitig über diesen lustigen Wink des Schicksals und das sie diese Möglichkeit beim Schopf gepackt hatte.

*

Das "Karma" war sein Stammlokal. Immer wenn er ein wenig abschalten wollte oder Stress hatte, zog er sich hierher zurück und jetzt gerade brauchte er den ein oder anderen Drink. Seine Frau war früher nicht so launisch und unberechenbar gewesen, ging es ihm grübelnd durch den Kopf.

"Verdammte Ehe, ein reines Narrenhaus.", dachte er und betrachtete das rote Neonschild über der Tür. "Karma! Was sollte das überhaupt heißen?" Er öffnete die Tür und betrat das kleine Lokal. Das Licht war gedämpft und auf dem Tresen und den Tischen standen kleine Kerzen. "Eigentlich ein recht gemütliches Plätzchen.", fand er und nahm an der Bar Platz. Wieso seine Frau in letzter Zeit immer scheinbar grundlos so ein Theater machen musste, war ihm unbegreiflich. "Einen Whisky bitte", meinte er zu dem Barkeeper.

Er blickte sich in dem schwach beleuchteten Raum um, es waren einige Menschen hier, mehr als sonst fand er. Der Whisky war schnell geleert und ein zweiter bestellt.

"Hey Mann, diese verdammten Frauen... machen einem das Leben nur schwer, stimmts..?"Der Mann der ihn angesprochen hatte, saß neben ihm und schien schon einiges mehr getrunken zu haben.

"Wie bitte?", meinte er verwundert.

"Ach, deine Alte hat dich doch sicher sitzen lassen so wie du aussiehst..!", fuhr er in lallendem Tonfall fort.

Er glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, wer war dieser unverschämt Kerl.

"Entschuldigen Sie, aber ich will hier einfach nur in Ruhe etwas trinken, also lassen Sie mich bitte zufrieden." Mit diesen Worten drehte er sich wieder dem Tresen zu und schüttelte leicht angewidert den Kopf.

"Wissen Sie was, beachten Sie den am besten gar nicht.", meinte der Barkeeper mit vorgehaltener Hand leise, "Der war gestern auch schon hier. Faselt die ganze Zeit irgend etwas von einem Auftrag den er niemals annehmen hätte sollen." Er zuckte die Schulter. "Irgend ein Spinner"

"Hey, ich mein ja nur..." Der Fremde war aufgestanden und hatte ihm den Arm um die Schultern gelegt. Sein nach Alkohol stinkender Atem trat ihm in die Nase. "Du siehst mir eben aus wie so ein reiches Weichei, dessen Frau nichts mehr von ihm wissen will... Ich mein ja nur.."

Ruckartig war er aufgestanden, Wut stieg in ihm empor. Was dachte sich dieser unverschämte Kerl nur dabei.

"Hören Sie, wenn Sie mich nicht augenblicklich in Ruhe lassen, dann..!"

"Was dann!", fiel ihm der Betrunkene ins Wort. "Langweilst du mich dann mit Aktienkursen zu Tode, du reiches Riesenbaby..!" Er kicherte und wankte dabei von einem auf den anderen Fuß. "Na komm schon du möchtegern Held, ihr reichen Schlapschwänze könnt doch nichts außer reden."

Und dann riss ihm der Geduldsfaden.

*

Sie hatten sich schon mindestens zwei Jahre nicht gesehen, dachte sie als sie ein paar Knabersachen in kleine Schüsseln leerte und auf den Tisch stellte. Eigentlich hatte sie ja heute vorgehabt mit drei anderen Freundinnen auszugehen, aber das konnte sie an einem anderen Tag auch machen. Sie war schon richtig aufgeregt. Ganz spontan hatte eine langjährige Freundin sie angerufen und gemeint, dass sie in ein paar Stunden im Flieger säße und auf dem Weg zu ihr sei. Sie hatte sogar Wein gekauft, obwohl sie eigentlich so gut wie nie Alkohol trank, aber für diesen Anlass war das okay, hatte sie beschlossen. Während sie die Flasche entkorkte ließ sie den heutigen Tag noch einmal Revue passieren. Endlich hatte sie ihren Laufrekord gebrochen. Bei diesem Gedanken musste sie schmunzeln, weil sie sich an den armen Kerl vom Vortag erinnerte und wie er fast seinen Bus versäumt hätte. Aber heute hatte sie es geschafft, sie war stolz auf sich. Als es an der Tür läutete und sie ihrer Freundin öffnete, konnte sie es garnicht glauben.

„Wow, du siehst toll aus!“, sagte sie „Haha eine richtige Geschäftsfrau ist aus dir geworden.“ Fröhlich umarmten sich die beiden.

„Und du siehst verdammt fit aus! Sag mal wirst du jünger?“ Lachend gingen sie in die Wohnung.

„Ich laufe sehr viel“,antwortete sie und nahm ihr den Blazer ab. „Wie war dein Flug?“

„Sehr schön, ich bin mit einer neuen Geschäftspartnerin gereist. Die hat es echt drauf die Frau sag ich dir, da war sogar ich neidisch.“, antwortete sie uns grinste.

„Magst du einen Wein?“

„Ja, sehr gerne.“

Die beiden Frauen setzten sich auf das Sofa und fingen eine angeregte Unterhaltung an, es wirkte wie Tage die sie sich nicht mehr gesehen hatten, nicht wie Jahre, wie als verbinde sie etwas das weit über die Zeit hinausreicht. Bis spät in die Nacht tauschten sie sich aus, berichteten, teilten Erfahrungen und Einsichten, lachten und scherzten, es war wunderbar.

„Verdammt, warum können wir uns nicht viel öfter sehen!“, meinte sie schließlich. „Kannst du deinen wichtigen Businessjob nicht hier erledigen? Wir könnten sogar gemeinsam laufen gehen.“ Beiläufig schaltete sie ihren Fernseher ein.

„Hey ich bin stellvertretende Geschäftsführerin in unserer Firma, wie stellst du dir das vor!“, antwortete ihre Freundin lachend. „Du kannst ja zu mir ziehen. Laufen kann man dort auch.“, und wieder lachte sie.

„Und mein Job? Ich laufe ja nicht Hauptberuflich!“ Und so scherzten sie noch eine Weile, bis ihr Blick ganz zufällig auf den Fernseher fiel. „Oh mein Gott, ich glaube es nicht!“ Sie schnappte sich die Fernbedienung und schaltete lauter. „Sie dir das an!“, sagte sie mit erschrockener Stimme. „Das ist das Lokal in das ich heute fortgehen wollte bevor du anriefst!“ Die Spätnachrichten waren gerade am Laufen und eine Reporterin berichtete vor Ort.

"Die Nachrichten! Heute kam es im "Karma" einem Lokal am Stadtrand zu einer wilden Schlägerei, bei der das Gebäude Feuer fing. 11 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Die Einsatzkräfte konnten das Feuer löschen, der Schaden ist aber noch nicht abschätzbar. Einige der Opfer erlitten schwere Brandverletzungen und Rauchgasvergiftungen. Die Ursache des Streits ist noch nicht geklärt, aber die immer noch vor Ort ermittelnden Beamten vermuten einen eskalierenden Streit. 4 der vermeintlichen Unruhestifter sind bereits in Gewahrsam, die Untersuchungen dauern aber noch an. Wir halten Sie über alles weitere am Laufenden."


Würden wir die Reaktionen auf unsere Aktionen unmittelbar spüren, was aber oft nicht der Fall ist, würden wir uns wahrscheinlich gänzlich anders verhalten. Das Problem ist die scheinbare Distanz zwischen Ursache und Wirkung, welche uns die Zusammenhänge oft nicht erkennen lässt. Würde uns das Feedback der Welt immer direkt treffen, könnten wir es besser verstehen und darauf reagieren. Meist nimmt es jedoch Umwege. Dieser Umweg ist aber nur ein scheinbarer, denn wenn wir davon ausgehen, dass wir alle Teil eines großen Ganzen sind, das keine Trennung zwischen Individuen zulässt und nur durch Zeit und Raum scheinbar getrennt wirkt, sind wir immer und zu jeder Zeit mit allem und jedem verbunden. Jede Aktion hat somit eine unmittelbare Reaktion im Ganzen zur Folge, nur sehen wir sie oft nicht, oder nur auf gänzlich anderem Weg. Das lässt uns in dem Glauben, es gäbe einen Zufall. Könnten wir das Resultat jeder Handlung unmittelbar und sofort wahrnehmen, wäre uns die Verbundenheit mit Allem und Jedem sofort klar. Doch schafft der Raum und die Zeit zwischen den einzelnen Ereignissen eine scheinbare Distanz. Alles was wir tun hat eine Auswirkung und die hierbei freigesetzte Energie kehrt auf dem ein oder anderen Weg wieder zu uns zurück.